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15.01.2021

Serie: Die Kirchhainer Stadtteile stellen sich vor Heute: Kleinseelheim (Folge 11) Wo die Zeit nicht stehen bleibt, auch wenn es manchmal und Einigen so scheint

Nur wenige Orte im Landkreis Marburg-Biedenkopf können auf eine ähnlich lange Geschichte zurückblicken wie der Kirchhainer Stadtteil Kleinseelheim. Und manchmal scheint es sogar so, als sei die Zeit im Ort im Guten stehengeblieben: Eine große Zahl an Kulturdenkmälern hat sich bis heute erhalten, die Kirchenglocken erklingen durch Handgeläut, Hühner laufen über Straßen und die Kinder der Kita spielen auf Wiesen und Feldern, all das fast wie eh und je. Aber die bis 1970 eigenständige und vor und nach überstandener Nazizeit mehrheitlich „rote“ Gemeinde Kleinseelheim hat als Kirchhainer Stadtteil auch viel Neues zu bieten und ist bei einigen Themen sogar „ganz weit vorn“.

Der urkundlichen Ersterwähnung nach fing im damaligen Seelheim (heute Groß- und Kleinseelheim) die Vergangenheit im Jahr 779 richtig an. Nach und nach entwickelten sich das bis heute landwirtschaftlich geprägte Ober- und Unterdorf mit meist großen Höfen und Nebengebäuden, die Gratte für „die einfachen Leut“ und - nach dem zweiten Weltkrieg - ein Ortsteil mit neuerer Bebauung im Umgriff des Kirschenbergs.
Neben der Landwirtschaft prägte von 1899 bis 1986 eine Ziegelei den Ort, deren weit über Kirchhain hinaus geschätzte „Seelheimer Klinker“ in vielen Gebäuden Kleinseelheims verbaut sind. Besiedelt war die heutige Gemarkung Kleinseelheim aber schon viel länger. Das belegen mehrere alt- und jungsteinzeitliche Funde sowie bronzezeitliche Grabanlagen, die vor einigen Jahrzehnten in der Feldflur Kleinseelheims freigelegt wurden. Auch gab es unweit Kleinseelheims mit den Wüstungen Seckbach und Elau mindestens zwei weitere kleine Siedlungen, die jedoch bereits im Hoch- bzw. Spätmittelalter aufgegeben wurden.
Wer heute als Pilger entlang des Elisabethpfads und Jakobswegs aus Richtung Amöneburg und in Richtung Schröck durch Kleinseelheim läuft, in der Kirche mit barocker Orgel oder am schönen Brunnen Schäferborn an einem Gottesdienst teilnimmt oder dort die Landschaft genießt, aus dem Ohm-Rückhaltebecken in Richtung Roßdorf mit dem Fahrrad durch den Ort fährt oder als Besucher und Bewohner Kleinseelheims mit offenen Augen durch den Ort geht, kann diese Geschichte bis heute mit allen Sinnen erleben.

Für Viele im Ort bedeutet dies Heimat, und für ähnlich Viele ist Kleinseelheim Wahlheimat geworden. Dies gilt für die kurz nach dem zweiten Weltkrieg Zugezogenen und für Bewohner, die sich später bewusst für ein Leben in Kleinseelheim entschieden haben. So ist der Ort mit seinen aktuell etwa 650 Einwohnern erstaunlich vielfältig. Das gilt, ähnlich wie in der großen Welt, unter anderem für gesellschaftspolitische Haltungen von manchmal „ganz weit rechts“ bis nicht selten „weit links“ und oft „grün“. Die Vielfalt des Lebens in Kleinseelheim wird aber auch in den örtlichen Betrieben und sonstigen gewerblichen Angeboten deutlich: Unter anderem der „Getränkemarkt Weiß“, „Möllers Hausmacher Wurst“ und der „Pferdehof Römer“ sind in der Region seit vielen Jahren sehr geschätzte Betriebe, aber auch z.B. die Musikschule Klangspiel, das Yogastudio Kleinseelheim, die Solartechnikfirma auteos und der Pyrotechnik-Betrieb Thomas stehen für den Ort und sind über diesen hinaus bekannt.
Die Vielfalt der Bewohner Kleinseelheims spiegelt sich auch im ausgeprägten Vereinsleben wider, das im zurückliegenden Jahr wegen der Corona-Pandemie leider nicht so gelebt werden konnte, wie es sich alle gewünscht hätten. Die Kleinseelheimer Feuerwehr, der Jugendclub, der Gesangverein, der Verschönerungsverein, der Angelverein, die VdK Ortsgruppe, die AG +/- 60 und der Förderverein Kleinseelheim stehen für teils unterschiedliche Interessen und zugleich für den Wunsch nach Zusammenhalt. Von allen Vereinen gemeinsam sowie mit Unterstützung weiterer Kleinseelheimer und von Sponsoren außerhalb des Ortes veranstaltete große Dorffeste und zahlreiche Einzelveranstaltungen der Vereine haben dies immer wieder gezeigt und werden dies hoffentlich ab Spätsommer wieder zeigen können.
Eine wichtige Voraussetzung dazu wurde im leider sehr stillen Jahr 2020 geschaffen: Die im Sommer 2019 abgebrannte Grillhütte wurde komplett barrierefrei neu aufgebaut und bietet, neben dem Gelände des Dorfgemeinschaftshauses und des Sportvereins RSV im Ortskern, beste Voraussetzungen für gemeinsames Feiern von Jung bis Alt.

Seit 2015 ist diese Vielfalt um eine örtliche Genossenschaft gewachsen, in der sich etwa 70 Mitglieder zusammengeschlossen haben und die vorübergehend für große Unruhe im Ort sorgte. Die Bioenergiegenossenschaft Kleinseelheim eG hat in den Jahren 2018/19 in einem großen Kraftakt den zuvor bei der Wärmeversorgung sehr rückständigen Ort mit einem Nahwä¬menetz als Bioenergiedorf neu aufgestellt und fast nebenbei für viele Haushalte Glasfaser-Internet in den Ort geholt. Kleinseelheim wurde für diese und weitere Aktivitäten, besonders auch zum Thema Barrierefreiheit, seit 2014 mehrfach ausgezeichnet. Positiv hat sich dies auch auf das Interesse potenzieller Neubürger ausgewirkt. Wir Kleinseelheimer freuen uns darauf, dass sich auch diese und junge Kleinseelheimer Familien im vorhandenen Gebäudebestand, in Neubauten auf innerörtlichen Baulücken und im geplanten Neubaugebiet „Ziegeleistraße“ bald wohl fühlen.
Schließlich zeigt ein kleiner Platz neben der Integrativen Kindertagesstätte „Das Nest“, der Ende 2018 als „Nachhaltigkeitsplatz“ neu angelegt wurde, worauf es Vielen im Ort ankommt: Nachhaltige Dorfentwicklung mit Umwelt- und Klimaschutz sowie Schutz und Förderung der biologischen Vielfalt. Denn auch Zauneidechsen, Weißstörche, Rebhühner, Schleiereulen, mindestens drei Fledermausarten und seltene Pflanzenarten, die u.a. auf einer im Jahr 2016 neu angelegten Streuobstwiese vorkommen, gehören zu Kleinseelheim dazu. Das wird nicht zuletzt der nächsten Generation zugutekommen, die im Kraut- und Beerengarten der Kindertagesstätte am Ortsrand mit Storchenhorst und Naturschutzerlebnistagen bereits heute von Veränderungen profitiert. Darüber und über vieles Weitere, was im Ort so passiert, informiert seit 2011 auch die Internetseite http://kleinseelheim.de.

Notwendige Veränderungen in Orten wie Kleinseelheim sind mit teils hohen Kosten verbunden, und längst nicht alles kann über städtische Mittel finanziert werden. Weitere Geldquellen zu erschließen, ist eine der Aufgaben des Fördervereins 1225 Jahre Kleinseelheim, und – wie im Fall der Entwicklung zum Bioenergiedorf – ist auch staatliche Förderung wichtig. Aber Geld allein reicht nicht. An vielen Stellen ist das Ehrenamt gefordert. Wie schön, dass auch dies wie z.B. beim jährlichen Laubrechen auf dem Friedhof, beim Neuaufbau der Grillhütte oder bei der kürzlich erfolgten Neuanlage eines Bürgersteigs mit Blühfläche immer wieder gelingt. Und ehrenamtliche Hilfeleistungen nach dem schlimmen Starkregen im Sommer 2018 sowie zur Unterstützung von Senioren im „Corona Jahr“ haben gezeigt, dass man sich im Ort auch im Notfall aufeinander verlassen kann. Ein gutes und lebenswertes Zuhause!

Text: Ortsvorsteher Prof. Dr. Rainer Waldhardt

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